MILDRED seit 1898 unter Segeln
Zweimal „wie neu geboren“
„Mein alter Kater George sitzt mir hier gerade auf dem Schreibtisch gegenüber, während ich diesen Brief schreibe…“ So beginnt die Nachricht eines der zahlreichen Vorbesitzer, die ich im Laufe der letzten Jahre ausfindig gemacht habe, um möglichst viel über die Geschichte unseres kleinen Gaffelkutters MILDRED herauszufinden. „Ship’s Cat George“ und sein „Kapitän“ Paul Fowle wohnten sogar ein paar Jahre richtig auf dem kleinen Boot, bis es ihnen dort zu feucht und unbequem wurde und sie sich schließlich ein Domizil auf dem Land besorgten. Paul kaufte MILDRED 1975 – und zu der Zeit lag sie schon drei Jahre (!) auf Grund – in einem kleinen Hafenkanal in Shoreham an der Südküste Englands. Der Kaufpreis von nur 350 Pfund (damals etwa 1400 DM) war für den Zustand des „Objekts“ sicherlich angemessen! „Sie war voll mit Schlick, Aalen und geborstenen Konservendosen, die in den Regalen gestaut waren – für eine Reise die nie stattfand…“
Paul Fowle vollbrachte ein wahres Wunder indem er MILDRED heben ließ und sie im Laufe der nächsten Zeit wieder vollständig renovierte. Der Mast – der heute noch ihr Rigg trägt, sollte eigentlich ein Telegrafenmast werden. Er wurde freundlicherweise von der British Telephone Company gestiftet. Der „alte“ Mast, den einer der Vorbesitzer dem Kutter verpasst hatte, war absolut indiskutabel: Er stammte ursprünglich von einem hochgetakelten 12 t Hillyard Kutter und war 10 Meter länger als der neue. MILDRED war übrigens auch mit dem 20 Meter hohen Mast gaffelgetakelt – man stelle sich die Segelfläche von 1020 Quadratfuß (93,8 qm) vor…
„George“ war übrigens immer dabei, auch wenn es ums Segeln ging. MILDRED und ganz besonders ihr Schiffskater waren – wie Paul es beschreibt: „colourful characters“ in der Hafengegend.
Etwa um das Jahr 1930 herum kam MILDRED mit einem Mr. Northeast nach Shoreham. Dieser war Mitglied im Sussex Yacht Club und segelte sie unter deren Wimpel bis 1964. Er wurde schließlich zu alt für den Yachtsport und der kleine Gaffelkutter begann im Schlick an der Hafenpier zu verrotten. Jugendliche Randalierer und andere nette Passanten beschleunigten das Werk. 1965 kaufte der 18 – jährige Mark Lingard das Wrack und begann eine langjährige Restaurierungsarbeit.
Mark war von Beruf Shorehams einziger Bait Digger (Köderbuddler). Er grub nach Würmern, die er dann an Angler verkaufte. Seine Frau Ruth – die mir erst kürzlich einen Brief aus ihrer jetzigen Heimat in Kanada schickte, arbeitete damals für die berühmten „Orton Racing Stables“ in der Nähe.
Paul Fowle schreibt über MILDRED’s schöne Jahre mit Mark Lingard: „Mildred was hostess to countless adventures and goings-on over the years, entertaining famous „names of the day“, those of an oilier persuasion in the Mods and Rocker days and the hippest of the Hippies and beautiful people of the late ‘60s.“
Mark und Ruth wollten eigentlich irgendwann mit MILDRED nach Gibraltar und noch weiter segeln. Daraus wurde aber leider nichts. Sie verkauften das Boot 1971 und segelten andere schöne und auch größere Schiffe im Mittelmeer, wo Mark dann 1973 unter mysteriösen Umständen ums Leben kam… und MILDRED verfiel langsam bis Paul Fowle sie dann 1975 kaufte.
Als er sich dann 1983 schweren Herzens von ihr trennte, vermerkte er auf dem Verkaufsangebot: „Ship’s Cat George not included in price!“ MILDRED ging an Mr. Nigel MacMillan in Brighton, der sie nur für Tagestörns benutzte und schließlich 1987 über einen Makler an uns verkaufte…
Mildred in „Lohn und Brot“
MILDRED wurde im Jahre 1898 etwas nördlich von Falmouth an einem kleinen Seitenarm des River Fal, dem „Calenick Creek“ gebaut. Die Werft von Stephen Brabyn – heute ist dort nur noch Wildnis und Strand – baute dort Schoner und jede Menge kleinere Nutzfahrzeuge. Unter diesem Sammelbegriff liefen damals auch die zum Austernfang bestimmten 20 bis 30 Fuß langen Gaffelkutter, die heute einfach „Working Boats“ genannt werden. Genau genommen aber lief MILDRED als ein „Truro River Oyster Boat“ vom Stapel. Verschiedene Reviere brachten unterschiedliche Boote hervor. So sehen die Austernfischer von der Englischen Ostküste beispielsweise ganz anders aus: Sie haben ein überhängendes Heck, sind schmal, eingedeckt und haben wenig Tiefgang. Vielen hierzulande wird die „Betty Of Colchester“ bekannt sein. Sie ist ein solcher Austernkutter – oder eben eine „Oyster Smack“ – von der Ostküste mit ihren verzweigten, flachen Flussmündungen.
Die Boote vom River Fal und vom Truro River sehen völlig anders aus: Nahezu gerader Spiegel, große offene Plicht, viel Tiefgang und eine ansehnliche Breite. Der Tiefgang muss bei einem Austernfischer so groß wie möglich und auf das Revier abgestimmt sein. Eine große Lateralfläche ist deshalb so wichtig, weil die Boote quer über die Austernbänke treiben, wenn sie ihre Austernrechen, die „Dredges“ ausgebracht haben. Je langsamer nämlich die Drift, desto gründlicher das Abernten der Bank.
Die „Oystermen“ sorgen mit ihrer Kenntnis der Strömungen sowie je nach Windrichtung mit ausgeklügelten Segelstellungen dafür, dass der Kutter möglichst genau quer über die Bank treibt, um entlang des Schanzkleids bis zu drei Dredgen nebeneinander ausbringen zu können. Dazu wird meist das Großsegel „scandalized“ – die Piek der Gaffel wird sehr weit weggefiert. So wird viel Kraft aus dem Segel genommen. Weiterhin muss der Klüver backgeholt werden, damit der Bug nicht in den Wind dreht. Im Grunde ist es so ähnlich wie beim Beidrehen, nur dass die Fahrt über den Vorsteven hier noch viel geringer ausfallen muss, um das mögliche Fangergebnis nicht zu verderben.
Ich kann diese „Fischereibeschreibung“ übrigens deshalb in der Gegenwartsform schreiben, weil dort auf dem River Fal und dem großen Mündungsgewässer, den „Carrick Roads“, immer noch nach diesen alten Techniken und nur unter Segeln nach Austern gefischt wird. Zwar ist die aktive Flotte nicht mehr so groß wie beispielsweise Anfang der 70er Jahre – damals fischten noch bis zu 30 Boote, aber immerhin kann man heute täglich etwa acht bis zehn Boote in den Wintermonaten ( die mit „r“) auf den Austernbänken zählen. Das älteste Boot dieser „aktiven“ Flotte, die „Morning Star“ aus dem Jahre 1840 (man nimmt sogar ein noch früheres Baujahr an) wurde erst 1980 nach einem Unfall aus der Fischerei genommen.
Die „Falmouth Working Boats“ sind also Europaweit die einzige aktive Fischereiflotte, die nur unter Segeln allein fischt! Der Grund für diese einzigartige, Natur- und Bestände schonende Praxis liegt in einem lokalen Gesetz von 1868, das den Einsatz von Motoren jeglicher Art auf den Austernbänken untersagt. Der Rückgang der Fischerei hat seine Ursache also nicht in einer effektiveren Bewirtschaftung der Bänke. Schuld hieran ist eher die allgemeine Umweltverschmutzung und ganz speziell der Befall der Kulturen durch die Krankheit „Bonamia“ Anfang der 80er Jahre. Die Austerngründe erholen sich erst seit etwa 12 Jahren wieder einigermaßen von dieser Heimsuchung. Der einst noch so große, organisierte Markt für die dortigen Austern hat sich nun auf den Direktverkauf an Hotels und Restaurants verlagert. An der Englischen Ostküste, wo es kein Gesetz gegen den Gebrauch von Motoren gibt, ist die kommerzielle Austernfischerei schon Ende der 60er Jahre durch Überfischung regelrecht ausgestorben.
Die Saison für das Ernten der Austern geht von September bis Ende April. Zwar wird es in Cornwall in den Wintermonaten nicht wirklich kalt, dafür aber sehr stürmisch. Das Rigg eines Working Boats auf den Bänken fällt deshalb eher klein aus: Meist wird ein spezielles, kleines Großsegel, kleinere Vorsegel und niemals das Toppsegel gesetzt. Der Segelplan muss aber immer noch so gut sein, dass man möglichst schnell zum Beginn einer erneuten Drift über die Bank zurück kreuzen kann.
Die Schwestern
Ein Working Boat in den Sommermonaten sieht dagegen völlig anders aus. Die in den 70er Jahren zum Zweck der Erhaltung der Boote als besondere Klasse gegründete „Falmouth Working Boat Association“ erlaubt eine Regattabesegelung von 1000 Quadratfuß, was etwa 92 qm entspricht. Das ist eine enorme Fläche – wenn man beispielsweise die 76 qm Segelfläche unserer MILDRED im Vergleich dazu sieht, die ja auch nicht gerade einen untertakelten Eindruck macht. Außerdem ist die „Racing Fleet“ auch zahlenmäßig um einiges größer als die noch aktive Fischereiflotte, weil viele Privatpersonen aus allen möglichen Berufen sich ein Boot zugelegt haben, um an den heißen und berüchtigten Regatten der Working Boats teilnehmen zu können. Darauf, dass hier niemand seinen „Renner“ nach der Dicke seiner Brieftasche ausrüsten kann und somit das „Cheque Book Racing“ anderer Klassen gar nicht erst aufkommt, achtet die Vereinigung der Working Boats mit Argusaugen. Die Liste der Regeln und Einschränkungen ist recht lang – bestimmt länger als bei jeder anderen Regattaklasse die aus klassischen Schiffen besteht.
MILDRED’s direktes Schwesterschiff, die WINNIE, ist genau so ein typisches Beispiel für die Regattaklasse der Working Boats. Sie wird nur für die Rennen genutzt und hat seit Ende der 70er Jahre keine Auster mehr von den Bänken gekratzt. Zu ihren Eignern Jeff Martin und Arthur Williams haben wir einen guten und herzlichen Kontakt, der sich in vielen Besuchen äußert. Ob nun WINNIE oder MILDRED zuerst auf der Werft fertig geworden ist, kann man nicht eindeutig klären. Arthur Williams glaubt aber, dass es seine WINNIE war – dann hatten sie wohl noch ein paar Holzreste für den Bau der MILDRED übrig…
Ende der 60er Jahre wurden aus reinen Kostengründen und wegen großer Nachfrage die ersten Kunststoff – Arbeitsboote für die Fischerei gebaut. Sie entsprechen rein äußerlich nahezu genau ihren hölzernen Kolleginnen – sie haben allerdings, bedingt durch den leichteren Baustoff einen wesentlich tiefer – und damit günstiger liegenden Schwerpunkt. Für die Regattaflotte ist bei diesen Booten aber ebenfalls interner Ballast und ein Limit für den Ballast im Kiel festgelegt. Dass hier gut kontrolliert wird und die Regeln sinnvoll sind beweist sich darin, dass oft die hölzernen Schwestern als Gewinner der zahlreichen Regatten (drei bis vier pro Woche) hervorgehen. Es fahren noch etwa 15 Holzboote gegenüber ungefähr 25 Working Boats aus GFK.
Wer einmal bei einer Regatta auf solch einem Austernfischer mitfahren durfte, wird das Erlebnis wohl lange Zeit nicht vergessen können. Die Boote verhalten sich in etwa wie große, schwere Jollen. Dieser Eindruck rührt wahrscheinlich am meisten von der großen, tiefen Plicht her, die von dem sehr schmalen Achterdeck bis hin zum Mast reicht. Die Mannschaft von sechs bis acht Leuten tritt sich hier selten auf die Füße. Die Süllkante der Plicht liegt wenn man steht etwa auf Gürtelhöhe – man ist der Wasseroberfläche also sehr nah, was alle Eindrücke des segelnden Bootes noch intensiver wirken lässt. Während des Rennens kennen Skipper und Mannschaft offenbar keine Gnade. Regeln werden bis an die Grenzen ausgenutzt und Verstöße gegen diese peinlich genau beobachtet. Dabei würde niemand den Protestwimpel setzen – vielmehr kommt es später an Land zu lautstarken Diskussionen und hin und wieder wird ein schwaches Argument durch einen starken Arm aufgewertet. Auch während der Regatta kann es zu solchen „Nettigkeiten“ kommen. Es ist kaum zu glauben, aber einmal sprang ein Mannschaftsmitglied im günstigsten Moment auf einen Konkurrenten über, um dort einen Kinnhaken loszuwerden und sofort wieder über die Kante in das sichere Hafenwasser zu springen!
Verborgene Geschichte
Über MILDRED’s erste Zeit als aktive Austernfischerin und Regattaboot gibt es keine genaueren Aufzeichnungen oder Berichte. Nur soviel ist bekannt: Sie wurde damals von Ernest und William Thomas Gray in Auftrag gegeben, und den Namen erhielt sie nach deren hübscher Schwester Mildred. Die beiden fischten mit ihrem neuen Boot nur bis zum Jahre 1906 nach Austern und verkauften es dann an einen anderen Fischer in Falmouth, der es offenbar bis etwa 1930 in Besitz behielt. Ein Feuer im Stadtarchiv der Bezirkshauptstadt Truro vernichtete in den 20er Jahren viel wichtiges Material über etliche Boote und Vorgänge in der Fischerei, so dass leider nicht einmal mehr MILDRED’s Fischereinummer bekannt ist. Die Familien, die das Boot besessen haben sind außerdem allesamt aus der Gegend verschwunden…
Eine neue Heimat
Als mein Bruder und ich MILDRED im Januar 1987 zuerst im Seebad Brighton besichtigten, war es schon dunkler Abend, und wir krabbelten mit einer Taschenlampe bewaffnet herum, um vielleicht irgend etwas zu finden, was uns vom Kauf des Kutters abhalten könnte. Uns hätten wahrscheinlich sogar die Würmer entgegen grinsen können – wir waren nämlich sofort in das Boot verliebt und allein die Tatsache, dass es aus eigener Kraft schwamm reichte uns vollends aus!
Ganz aufgeregt riefen wir den Eigner am nächsten Morgen vom Bahnhof aus an und machten unser Angebot. Ich habe wegen des Lärms in der Halle nicht genau verstehen können was er sagte – außer dem entscheidenden „Yes, Sir“
Das alles passierte im Januar und schon zu Ostern reisten wir zu sechst in Brighton an, um unser Traumboot nach Hause zu holen. Einige Tage Basteln, Besorgen und dergleichen – und dann ging es los. Es wurde ein kalter, aber überwiegend sonniger Törn mit ganz viel Gegenwind – was übrigens MILDRED’s ganz privates „Glück“ zu sein scheint… Nebel hatten wir glücklicherweise auch nicht zu viel. Als wir Brighton verlassen wollten und den Hafenmeister nach den eventuellen Launen des gerade herrschenden dichten Nebels befragten, antwortete dieser: „Oh, I’m sorry I really can’t say a thing about it – it’s french fog!“
Nach 12 Tagen mit viel Motoren und wenig Schlaf erreichten wir dann endlich Brunsbüttel und brachten MILDRED durch den Kanal nach Kiel. Wir veranstalteten kurz darauf eine Taufparty, auf der wir unseren Kutter in „TURF“ umbenannten. Das war uns schon kurz nach dem Kauf klar – wir fanden „Mildred“ ist ein blöder Name und dachten TURF passte besser zu einigen modrigen Hölzern, die man in und an ihr finden konnte.
Wir wussten damals noch nicht, dass wir ein original Falmouth Working Boat gekauft hatten. Was es mit dem Bootstyp selbst auf sich hat, war uns ebenfalls völlig unbekannt. Darauf machte uns dann ein Däne während eines Segelurlaubs 1988 aufmerksam. Seit dem habe ich unzählige Briefe verschickt – auf die ich meist auch eine Antwort erhielt. So konnte ich hier zumindest einen groben, mit einigen Lücken versehenen Lebenslauf unseres Kutters nachzeichnen. Vielleicht möchten wir auch gar nicht so genau wissen, wie oft MILDRED noch nach ihrem Ausscheiden aus der Fischerei und vor dem „Verhältnis“ mit Mr. Northeast irgendwo im Hafenschlick vor sich hin gammelte…
In den ersten vier Jahren, die MILDRED dann an der Kieler Förde beheimatet war, erneuerten wir Deck, Schanzkleid, Kajütdach (der Kajütaufbau selbst dürfte etwa 1930 entstanden sein), Gaffel, Klüverbaum, ein paar Spanten und auch den kompletten Innenausbau. Dabei sorgten wir aber dafür, dass über die Sommer stets alles soweit für die Urlaubstörns klar war. TURF unternahm mit uns eine lange Reihe ausgedehnter und interessanter Reisen auf Ost – und Nordsee. Zweimal schon besuchte sie dabei ihre alte Heimat in Falmouth, wo sie jedes Mal sehr herzlich empfangen wurde. Nach dem ersten Besuch dort im Jahre 1990 wurde sie aber wieder in MILDRED umbenannt, nachdem uns durch die vielen Recherchen um ihre Geschichte klar geworden war, dass sie schon immer diesen Namen getragen hatte. So konnten wir auch viele Freunde in Falmouth wieder beruhigen, die sich (und uns) immer wieder fragten, was der Name „Turf“ wohl eigentlich bedeuten soll…
Andreas Köpke